Die Ereignisse in Chemnitz und die Rolle des (ost-)deutschen Faschismus

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Kategorie: Nordrhein-Westfalen
Veröffentlicht am Sonntag, 30. September 2018 00:00
Geschrieben von LO NRW
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Wir veröffentlichen hier die deutsche Übersetzung eines Artikels von Eva Niemeyer. Der Artikel wurde zuerst in englischer Sprache von den Genossen der CPGB-ML veröffentlicht.

Wie kann es sein, dass es Ausschreitungen gegen Immigranten gibt im Herzen der vormaligen deutschen sozialistischen Republik?

Diesen Artikel erhielt „Proletarian“ von einer Genossin aus der deutschen kommunistischen Bewegung.

Die Ereignisse in Chemnitz – vormals Karl-Marx-Stadt (!) – nehmen sicherlich eine Veränderung in der politischen Landschaft Deutschlands vorweg. Was jedoch nicht neu ist:

Was hingegen neu ist, ist die Verbindung zwischen der „bürgerlichen Partei“ AfD (Alternative für Deutschland) und den Horden von halb-analphabetischen Hooligans, die zuerst in der Bundesrepublik (West-)Deutschland während der 1970er auftauchten.

Ursprünglich hatte sich die AfD als Anti-EU-Plattform durch Würdenträger aus dem politischen und wirtschaftlichen Umfeld gegründet und nur wenig Anhängerschaft gewinnen können, doch das änderte sich durch Ausnutzung der Antiflüchtlingshysterie, die größtenteils durch „respektable“ politische Parteien erzeugt wurde, die die Gebrechen des Kapitalismus unter denen die Massen leiden, den Migranten in die Schuhe schieben.

Neu ist ebenfalls die Beschäftigung mit dem einzelnen Wort „Hetzjagd“ (damit ist die Jagd auf Flüchtlinge gemeint) zur Beschreibung des Verhaltens des Mobs gegenüber Ausländern bei den Demonstrationen in Chemnitz.

Dieses durch Journalisten zur Beschreibung der Chemnitzer Vorfälle gebrauchte Wort, wurde von Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer als unzutreffend verurteilt, vom Kanzleramt unterstützt, dann durch den Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen verworfen. Kurz, die Kontroverse entzweit die Koalitionsregierung.

Mit einem Mal sind sich alle uneins – die Koalitionsparteien, Bundes- und Länderregierungen, Journalisten und Exekutivorgane – während die AfD sich ins Fäustchen lacht.

Von außen betrachtet erscheint Deutschland in einem Zustand der Unordnung. Zumal nun die Deutschen einen Anspruch darauf haben als „Experten“ des Faschismus und Antifaschismus zugleich zu gelten, ob nun in der Theorie oder der Praxis, mag es lohnenswert sein die Einsichten berühmter deutscher Antifaschisten aus Ost- und Westdeutschland zu rekapitulieren.

Die Rolle des deutschen Faschismus

Dank der durch die DDR geleisteten Arbeit (Deutsche Demokratische Republik, der im östlichen Deutschland errichtete sozialistische Staat), ist der Übergang der Weimarer Republik (bürgerlich-demokratisch) in einen faschistischen Staat (Nazidiktatur) minutiös dokumentiert, mit dem Resultat, dass antifaschistische Gelehrte der DDR und BRD gleichsam in der Lage waren, grundsätzlich zu den selben Schlüssen zu gelangen:

Obwohl die deutsche Bourgeoisie zunächst in der Lage war, ihre Kraft zurückzuerlangen, und anschließend die durch den Versailler Vertrag auferlegten Reparationen zu verwässern und aufzuschieben, wurde sie durch die weltweite Wirtschaftskrise von 1929 überrumpelt. Die folgenden Austeritätsmaßnahmen riefen Massenaufstände unter der Führung der rasant wachsenden Kommunistischen Partei (KPD) hervor, während der Zuspruch zur Sozialdemokratie sich dramatisch abschwächte, wodurch sich die Bourgeoisie veranlasst sah, nach alternativen Parteien Ausschau zu halten, um die Massen auch weiterhin in die Irre zu führen.

Obendrein waren sich die deutschen Kapitalisten darüber uneins, welche Märkte mithilfe welcher Verbündeter zukünftig gesichert werden sollten (die Chemieindustrie, nach ihrem Grundnahrungsmittel – Ölvorkommen – Ausschau haltend, zielte auf Einflussgewinn im Kaukasus, während die Stahlindustrie an französischen Eisenerzvorkommen und einem offenen amerikanischen Markt für ihre Produkte interessiert war). Der deutsche Faschismus stellte eine „für jede Größe passende“-Universallösung für alle Probleme der deutschen Monopole dar.

Allerdings hätte er ohne die tatkräftige Unterstützung breiter Schichten der deutschen Massen niemals erfolgreich sein können. Dies wurde erreicht durch die Verschiebung der Stützen des Systems weg von der Arbeiteraristokratie (der Hauptstütze zur Legitimation der Bourgeoisherrschaft bei den Massen in den meisten westlichen, kapitalistischen Ländern), hin zum enteigneten Kleinbürgertum, dem ein „innerer Feind“ (die Juden) angeboten und eine strahlende Zukunft, sobald dieser Feind erfolgreich beseitigt worden ist, indem die enteigneten Geschäfte und Wohnstätten deutschen „Ariern“ übergeben wurden.

Die faschistische Geschichte setzt sich fort

Die ersten Wirtschaftskrisen der BRD in den 1960ern erzeugten neue faschistische Bewegungen, die „neofaschistisch“ getauft wurden. Westdeutsche Faschismusexperten analysierten den Ursprung und die Funktion solcher Bewegungen, und deckten auf, dass ihnen nichts „Neues“ innewohnte, sie lediglich eine Wiederholung bereits bekannter bürgerlicher Strategien waren, um politische Krisen zu bewältigen.

Die Beschleunigung der kapitalistischen Wirtschaftskrise ist eine Tatsache, die dazu führt, dass die Erholung von der letzten Krise nicht abgeschlossen ist, bevor die nächste sich bemerkbar macht und in vorherrschender Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatzunsicherheit, dem Verfall des Bildungswesens, wie auch der Wohlfahrt und Gesundheitsversorgung mündet. Da dem so ist, müssen die Wurzeln eines offen terroristischen Regimes (Faschismus) am Leben erhalten werden, falls ein solches zukünftig notwendig werden sollte.

Faschistische Kräfte auf Sparflamme brodeln zu lassen, erfüllt mehrere Zwecke – nicht nur die Ermöglichung des Überganges in den Faschismus, sondern auch die Begünstigung einer ganzen Reihe undemokratischer Maßnahmen auch innerhalb der bürgerlichen Demokratie. Maßnahmen wie:

Die Weltwirtschaftskrise, die Überproduktions- und Überakkumulationskrisen, die durchgehend durch die kapitalistische Landschaft fegen, lassen Deutschland nicht unangetastet, obwohl es als kapitalistischer Exportweltmeister bisher Nebenwirkungen wie Arbeitslosigkeit und Armut größtenteils erfolgreich zu exportieren wusste.

Nichtsdestotrotz muss es sich, wie auch seine Konkurrenten, die Option des Rückgriffs auf den Faschismus erhalten, und deshalb mit den oben skizzierten Maßnahmen „spielen“.

Chemnitz ergibt Sinn

Die Ereignisse in Chemnitz fügen sich in dieses Bild nahtlos ein. Die Verbindung zwischen terroristischen, rechtsradikalen Elementen, rechten Parteien und „normalen“ Bürgern, hauptsächlich verarmten Arbeitern und Mittelschichten, zeigt, dass sich das bürgerlich-demokratische System gegenwärtig an einem Scheideweg befindet, unter großen Druck stehend, entweder die „notwendige“ Verschiebung (des ganzen Spektrums) nach rechts zu vollziehen oder einem anderen (offen repressivem) System Platz zu machen – also dem Faschismus.

Deswegen ist das Bestreben der deutschen Bourgeoisie nach einer Neuausrichtung der kulturellen Landschaft, samt der Einführung einer neuen Sprache, grundlegend wichtig. Gibt es eine „Hetzjagd“ auf Ausländer? Ist Migration die „Mutter aller Probleme“? Die sich durch die Nutzung solcher Redewendungen spiegelnde Polarisierung ist ein Indikator (Stimmungsmesser) dafür, in welchem Grade ein Systemwechsel der Mehrheit untergeschoben werden könnte.

Auch die Reaktionen der Kapitalsektoren, die stark vom Export und freiem Handel abhängig sind, müssen behutsam geprüft werden. Tatsächlich zeigt auch die Gruppe, die bisher die Hauptstütze der Bourgeoisie war, sprich die Arbeiteraristokratie und ihre Organisationen (die Gewerkschaften und die sozialdemokratische Partei) Anzeichen dafür, eine Menge von Grundsätzen rechter Ideologie übernommen zu haben.

Insbesondere die oben erstgenannte Maßnahme – also die Vereinnahmung von Protestpotential und dessen Umlenkung in Rassismus und Chauvinismus – wurde bisher hauptsächlich auf dem Gebiet der einstigen DDR eingesetzt.

Als 1989 klar wurde, dass der „Preis“ der Wiedervereinigung hoch werden würde, und er primär von der ostdeutschen Bevölkerung zu tragen sein müsse, entwickelten die politischen Entscheidungsträger Hand in Hand mit dem Verfassungsschutz einen Masterplan, um den unabwendbaren Protest dagegen umzulenken.

Bereits durch die verdeckte Operation Gladio der NATO (zur Destabilisierung der westlichen Demokratien, in denen befürchtet wurde, es käme zu einem Kraftzuwachs linker Kräfte, und zur Anstiftung von Dissens in sozialistischen Ländern) im Einsatz provokativer terroristischer Aktionen geschult und erfahren, waren sie gut in der Lage, ihre Fähigkeiten auch auf anderen Feldern einzusetzen, wie etwa beim Oktoberfestattentat von München 1980 (beabsichtigte die Opposition der Friedensbewegung gegen die Stationierung neuer Cruise-Missiles zu schwächen).

Also wurden als Verfassungsschutz-Agenten dienende rechte Hooligans auch in die Mittelpunkte des Protests und der Frustration in Ostdeutschland entsandt, wo sie erfolgreich Flüchtlinge zu Sündenböcken machten, was 1991 in Rostock zu einem der skandalösten Ausbrüche des Hasses gegen ausländische Arbeiter führte. Seit jeher bilden diese rechten Kräfte zusammen mit faschistischen Parteien im Osten einen Block, um jedweden Sozialprotest zu absorbieren und vom Kapitalismus und der Bourgeoisie abzulenken.

Aus diesen Verbindungen erwuchs der Nationalsozialistische Untergrund (NSU), der für den Mord an neun deutschen Staatsbürgern „mit Migrationshintergrund“ verantwortlich ist. Diese Organisation genoss eine derartig große Unterstützung des Verfassungsschutzes, dass eine enorme Zahl Akten vernichtet werden musste, um ihre Spuren zu verwischen. Sogar der Vorstoß des Bundesrats zum Verbot der faschistischen NPD (Nationaldemokratische Partei Deutschlands) schlug aufgrund ihrer engen Verflechtungen mit dem Verfassungsschutz fehl.

Chemnitz ist in diesen politischen Entwicklungen mittendrin, die zuerst in der ersten Krise Westdeutschlands ihren Ursprung hatten und nun – bewusst– in die ehemalige DDR ausgeweitet wurden. In Wirklichkeit ist das keine große Überraschung. Die Bevölkerung der einstigen DDR ist extrem frustriert und wurde drastisch betrogen. Ihr wurden durch den damaligen Kanzler Helmut Kohl „blühende Landschaften“ versprochen, anstatt jedoch den westdeutschen Wohlstand zusätzlich zu den sozialen Errungenschaften und der Versorgung der DDR zu erhalten, verloren sie letzteres und hatten nie teil an ersterem.

Eines der ostdeutschen Kernländer der Rechtsradikalen ist die Ostküste zwischen Stralsund und Usedom, eine der attraktivsten Touristenregionen des Landes, wo Hotelketten rapide investieren, während die Belegschaft auf Basis des Mindestlohns angestellt ist. In einigen Landkreisen wählten dort 40 % oder mehr der Wählerschaft NPD und AfD.

Bei einer öffentlichen Umfrage erklärte einer der gegen Flüchtlinge protestierenden Befragten (und sein Kommentar könnte eine repräsentative Stimme der ostdeutschen Demonstranten sein): „Seit die Mauer niedergerissen wurde, wurde uns alles genommen. In der DDR war alles gut. Der Arbeitsplatz war gut, die Umwelt war in Ordnung, das gesellschaftliche Leben war in Ordnung – alles war perfekt! Aber nun sind wir Niemande, ohne ordentliche Arbeit, kein Gemeinschaftsleben mehr, nur noch Einzug des großen Geldes und reicher Menschen aus dem Ausland. Wünschte sie hätte die Mauer nie eingerissen.“ (rückübersetzt aus dem Englischen)

Die offensichtliche Lösung wäre es den Sozialismus wiederherzustellen – etwas das für die Bourgeoisie offensichtlich nicht akzeptabel ist. Die Aufgabe aller bürgerlichen Parteien ist es deshalb, die Wut der Massen einzuspannen und sie auf unschuldige Flüchtlinge zu richten.

In den 1930ern schaffte es die deutsche Bourgeoisie große Teile der deutschen Massen dazu zu bringen, unschuldige Juden für das durch den Kapitalismus verursachte Unheil zu beschuldigen. Auf dass es heute ein Fall von „Einmal und nie wieder“ sei!